Fokus Literaturübersetzer/innen: Das Aschenblödel der Literatur
Auf dem Kontinent der Belletristik gibt es ein fruchtbares und ertragreiches Stück Land, das unversehens Gefahr läuft, zum Niemandsland der Literatur zu werden: die literarische Übersetzung.
Am Anfang dieser Carte blanche steht ein Schmierenmärchen, in welchem ich das Aschenblödel abgab. Am Samstag, dem 21. Februar, höre ich Schlag zwölf zufällig eine Sendung von France Culture, deren Titel alles hat, um mir zu gefallen: Questions d’étique, geleitet von Monique Canto-Sperber, die im übrigen Leiterin der Ecole Normale Supérieure ist. Das Buch, das auf dem Programm steht, Une Femme à Berlin (Eine Frau in Berlin), ist das persönliche Tagebuch einer (anonymen) Berlinerin, von April bis Juni 1945, als die Russen in Berlin aufkreuzen und sich alles unter den Nagel reissen, auch die Frauen. Die Sendung beginnt mit einem langen Zitat aus besagtem Tagebuch. Erste Regung in mir: Dieses Zitat kenne ich auswendig, es sind »meine« Worte, die da über den Äther kommen, oder vielmehr die Worte der anonymen Deutschen, die von mir ins Französische transponiert worden sind. Um einen so hochkarätigen Text zu übersetzen, kann man nicht nicht immer den nötigen Abstand wahren. Genauso wie jeder kreativ tätige Mensch gebraucht der literarische Übersetzer nicht nur seinen Kopf, nein, er muss auch seine fünf Sinne und sein Gemüt sowie seine eigene Lebenserfahrung einsetzen. Will er die fremde Stimme ganz authentisch wiedergeben, will er die Leserinnen und Leser genauso bewegen oder zum Nachdenken anregen wie der Autor, so muss er zum Akteur werden, und zwar im Sinne von Stanislawski: im tiefsten Inneren seine ureigenen Möglichkeiten herausholen, um das treffende Wort, den adäquaten Rhythmus, den richtigen Ton zu finden.
Doch die Sendung wartet noch mit weiteren Überraschungen auf. Der Gast, auch er Professor an der Ecole Normale Supérieure, ist kein geringerer als Jean-Pierre Lefebvre, ein angesehener Germanist und Übersetzer. Mir geht ein Stich durchs Herz: Warum bin ich nicht ebenfalls eingeladen worden? Schliesslich kenne ich das Buch bis in seine geheimsten Winkel, bin über alles bestens im Bilde, kenne die Entstehung, die historische oder ideologische Bedeutung und weiss sehr genau Bescheid über die Expertise, welche die Echtheit des Typoskripts bewies, das Kurt Marek (Anagramm von Ceram) anvertraut wurde. Die anonyme Frau hatte während des Übersetzens noch einmal in mir gelebt, und ich hätte gerne für sie gesprochen. Nun redet da aber ein Mann über diese höchst erstaunlichen Erlebnisse einer Frau, über die er jedoch rasch hinweggeht und uns dafür eine gewiss fundierte historisch-ideologische Analyse liefert, bei der es allerdings nur wenig um die physikalische Dichte und die literarische Qualität des Textes geht. Kein Wort über die realen Umstände, in welchen das Tagebuch geführt wurde, den Humor, als so schwarz daherkommt, als wäre er ihre letzte Rettung, über die Würde inmitten all des Schrecklichen, die edle Unparteilichkeit in all den Widrigkeiten oder die Wirrnisse des Typoskripts, das später in die Hände der Feministinnen fiel, und noch vieles mehr.
Die Sendung geht allmählich zu Ende, und mich haut es fast vom Stuhl: Weder der Interviewerin, einer Schriftstellerin, noch dem Interviewten, einem Übersetzer, von dem man Solidarität hätte erwarten dürfen, ist es zu keinem Zeitpunkt eingefallen, den Namen der Übersetzerin zu erwähnen. Und der Schlussdank richtet sich an die Techniker.
Die meisten Kolleginnen und Kollegen, die ich darüber informierte, begrüssten denn auch meinen sprudelnden Zorn, denn viele von ihnen hatten seit langem resigniert. Und in der Tat war mein Fall nur einer von Hunderten. Um sich davon zu überzeugen, braucht man sich nur die Website anzuschauen, die sich vor kurzem mit dieser Frage beschäftigt hat: http://zozodalmas.blog.lemonde.fr
Questions d’étique... der Name der Sendung war doch ein gutes Omen, war dies nicht der beste Ort für geistige Anständigkeit und demnach für die Einhaltung der moralischen Rechte eines Textes? Wo drückt der Schuh wirklich? Pariser Nabelschau, elitäres Kastensystem, akademische Pedanterie? Man lädt sich gegenseitig ein als brillante Besitzer von Wissen und Kompetenz und dreht den treibenden Kräften systematisch den Rücken zu, denn diese hält man grundsätzlich für unfähig, eine Überlegung zu ihrer Arbeit anzustellen, man vergisst systematisch die Schneiderlehrlinge, die talentiert, leidenschaftlich und unter grösster Anstrengung das ganze Mosaik eines grossen Buches originalgetreu nachgebildet haben... Warum wird die Schwerarbeit des literarischen Übersetzers, Koautor seiner Werke, vollwertiger Schriftsteller, eigentlicher Kulturbotschafter, derart vergessen, verkannt, verhöhnt? Ist er nichts weiter als der Idiot vom Dienst, der mit Anonymität bestraft wird, weil er unfähig sein soll, selbst einen Stil oder Ideen zu haben, und daher die »wahren« Schriftsteller bloss nachäffen darf? Kriegt er im Grunde genommen also bloss, was er verdient? Wenn Michel Pollack den Stil von Une Femme à Berlin lobt, warum kommt er dann nicht auf den Gedanken, dass dieser Stil notgedrungen das Resultat eines Vierhandspiels ist? In anderen Bereichen gilt der Beifall der Zuschauer von Hamlet nicht allein Shakespeare, und wer würde es schon wagen, ein Theaterplakat ohne die Namen der Schauspieler zu entwerfen?
Trotzdem noch ein paar zuversichtliche Worte: Die ATLF – die Association des traducteurs littéraires de France – mit Olivier Mannoni als Präsidenten arbeitet zur Zeit ein kollektives Reaktionssystem aus, wenn nicht nur in der audiovisuellen Presse oder in den Printmedien, sondern auch auf Websites, die Bücher zum Verkauf anbieten (und diese unterschlagen uns nur allzu oft) der Name des Übersetzers oder der Übersetzerin vergessen wird. Und noch etwas: Wie würde es wohl auf Buchmessen aussehen, wenn man alle übersetzten Bücher aus den Regalen nähme?
Zu hoffen bleibt, dass das, was wir hier, ob klug oder sinnlos, an den Pranger stellen, nicht bloss ein Kampf gegen Windmühlen ist und schliesslich doch noch über die Schlaumeier siegen wird...