Frauenstreik und Literatur (Text von Annik Mahaim)
Anfangs Juni 2018 erhielt ich eine Einladung der «Westschweizer Koordinationsstelle für einen Frauenstreik». 22 Jahre, nachdem das Gleichstellungsgesetz in Kraft getreten ist, sind die Löhne und Altersrenten für Frauen immer noch um einiges tiefer als diejenigen unserer männlichen Kollegen; wir übernehmen immer noch zwei Drittel der Haus-, Erziehungs- und Betreuungsarbeit; Gewalt gegen Frauen ist alltäglich. Im Erdgeschoss des Pôle Sud, der Räumlichkeiten des Gewerkschaftsbunds in Lausanne, habe ich mich unter eine Gruppe von etwa hundert Frauen gemischt, die sich an einem heissen Sommertag Luft zufächelten: ein buntes Spektrum von Sensibilitäten, Generationen und politischen Organisationen, doch alle sind sich einig: Jetzt reicht es! Streik! Streik! Streik!Das Datum wird auf den 14. Juni 2019 festgesetzt.
Schön und gut, aber was hat die Literatur damit zu tun? Nun, sie ist nicht in abstrakten Gefilden angesiedelt, wir praktizieren sie in unserem Leben als Männer und Frauen. Diese Bewegung stellt für die Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der Schweiz ein faszinierendes Terrain dar. Und bietet ihnen nicht zuletzt die Gelegenheit, für viele unserer Mitgliederinnen und Mitglieder einzutreten.
Letzten Sommer machten sich die kantonalen Vorbereitungskomitees zum Frauenstreik 2019 daran, ein nationales Manifest mit 19 Gründen für den Streik zu erarbeiten, das auf einer Internetseite in drei Sprachen veröffentlicht wurde. Erfahren Sie mehr auf: https://frauenstreik2019.ch
In Lausanne hat sich eine Untergruppe «Medien und Kultur» gebildet. Wir haben Zahlen gesucht und gefunden, die – obschon in der Schweiz im kulturellen Bereich nur wenige Geschlechterstudien existieren – zeigen, dass die Ungleichheiten zu Ungunsten der Frauen in diesem Bereich ebenso ausgeprägt sind wie in den anderen Wirtschaftsbereichen (Anerkennung, Sichtbarkeit, verantwortungsvolle Positionen …). Das neue Bewusstsein für diese Situation wurde durch die beim letzten Festival von Cannes von den Schauspielerinnen und Regisseurinnen lancierten Debatte gestärkt. Die Gruppe hat die Gründe Nr. 16 und Nr. 17 des nationalen Manifests erarbeitet, in denen insbesondere verlangt wird, dass die kulturellen Institutionen und Medien bei Stellenbesetzungen, Mandaten, Preisvergaben und Löhnen ihre Praxis ändern. Punkt 17 prangert die in den kulturellen Produktionen allgegenwärtigen sexistischen Modelle an.
«Wie können Schriftstellerinnen die Bewegung begleiten?», habe ich mich gefragt. Dabei kam mir die Idee zu einer Textsammlung. Ich habe mit meinen Freundinnen Silvia Ricci Lempen und Ursula Gaillard gesprochen, die sofort begeistert waren. Wir haben eine repräsentative Liste mit in der Westschweiz lebenden Schriftstellerinnen, Lyrikerinnen und Autorinnen erstellt. Anfangs Dezember 2018 haben wir diesen einen «Text-Aufruf» geschickt, in dem wir erklärten: «Wir wünschen uns, dass sich die Schriftstellerinnen mit ihren Mitteln (Gedicht, Erzählung, Theaterdialog usw.) zum Thema Diskriminierung aufgrund des Geschlechts äussern, als Gegengewicht zum demonstrativen Register.» Und dass «das literarische Schaffen in seiner ganzen Spezifität beim grossen Ereignis vom nächsten Juni präsent ist».
Unser Trio hat sich als wunderbar effizient erwiesen. Zwei Verleger liessen sich für das Projekt gewinnen: die Tageszeitung Le Courrier, die dieses Frühjahr monatlich einen Text der künftigen Sammlung veröffentlichen wird, und die Éditions d’en Bas, die anfangs September 2019 einen Band mit allen Texten herausbringen wollen. Bisher haben sich etwa zwanzig etablierte Autorinnen engagiert. Ich kann mir vorstellen, dass ein ähnliches Projekt bei unseren Deutschschweizer Kolleginnen entstehen könnte …
Soweit sind wir also im Moment, wo ich diesen Artikel für das AdS-Bulletin verfasse. Wir werden bei unserer Generalversammlung darauf zurückkommen.